Urlaub – eine Utopie – Antwort 20
„Ich arbeite 35 Stunden in der Woche!“
„Boah, das ist ja Wahnsinn! Und ganz schön ineffizient! Ich schaff meinen Kram in 24 Stunden. Was ist los?“
Ein Dialog aus der Zukunft.
Einer Zukunft, in der der Status eines Menschen nicht proportional zur Anzahl der heruntergerissenen Stunden pro Woche steigt. Eine Zukunft in der Zeit für Ruhe, Hobbies und gesellschaftliches Engagement im ganz normalen Alltag vorhanden ist. Und es nicht als „luschig“ angesehen wird, dass das alles genauso wichtig genommen wird wie „Arbeit“.
Es ist normal, nicht ständig im maximalen Leistungsmodus zu leben. Stattdessen hält jeder Reservekapazitäten für Notfälle oder Krisen bereit, die abgerufen werden können, wenn nötig. Das können eigene Herausforderungen sein oder solche in der Familie oder im Freundeskreis. Wir haben gelernt, zwischen Zeiten der Anstrengung und Entspannung zu pendeln. Auf anspruchsvolle Zeiten können völlig selbstverständlich Erholungsphasen folgen, die selbstbestimmt gestaltet werden können. Die eigene individuelle Höchstleistung wird gezielt abgerufen und ist keine Daueranforderung.
Wir haben gelernt, dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Leistungsprofile haben und das sich das System daran anpassen muss. Nicht umgekehrt. Wir wissen, dass Menschen keine Maschinen sind und sich auch nicht zu solchen optimieren lassen. Wir haben verstanden, dass es möglich ist, die eigenen Fähigkeiten und Stärken weiterzuentwickeln, um mit komplexen und schwierigen Lebensphasen klüger umzugehen. Es ist uns aber auch klar, dass es individuelle Grenzen gibt, die zu respektieren und akzeptieren sind.
Menschen haben gelernt, sich ihre Aufgaben einzuteilen und können mit der gewonnenen Freiheit umgehen. Jeder nimmt sich in Absprache frei, wie es nötig erscheint. Arbeitszeiten können frei bestimmt werden. Auch der Ort der Arbeit kann frei gewählt werden. Teams entscheiden projektweise selbst, was für sie am besten passt. Es wird sowohl auf introvertierte als auch auf extrovertierte Persönlichkeiten Rücksicht genommen. Eulen und Lerchen treffen sich am späten Vormittag. Kein Arbeitsrhythmus gilt besser oder leistungsfähiger als der andere. Emails, die nachts um drei oder um 21 Uhr geschickt werden, werden nicht als Aufforderung verstanden, zu denselben Zeiten aktiv zu sein. Asynchrone Kommunikation ist möglich und erfolgreich.
Was für eine Utopie! Das wäre was! Aber leider, leider nicht möglich!
Oder etwa doch?
Darum geht es
Ich lebe in dieser Zukunft. Das ist meine Gegenwart.
Damit diese Gegenwart sich aufbauen konnte, musste eine ganze Menge passieren. Im Außen und – vielleicht noch einschneidender- im Innen. Meine Haltung zu Themen wie „Arbeit“, „Urlaub“, „Produktivität/ Fleiß“ und „Erfolg“ wurde komplett umgekrempelt. Anders war es nicht möglich, dass ich die Freiheiten, die mir meine Selbstständigkeit gewährt, auch tatsächlich nutzen kann. Und eben nicht einfach weiter wie in den Angestelltenjahren zuvor nur von Urlaub zu Urlaub lebe und mich ansonsten einfach nur gestresst fühle.
Ich bin selbständig. – Also arbeite ich selbst und ständig?
Jetzt kommt das Geständnis und es fühlt sich fast schon unanständig an: Nein! Ich arbeite weder ausschließlich selbst und schon gar nicht ständig. Und weil ich mir als Selbstständige und Freelancerin prinzipiell aussuchen kann, wie viele Stunden ich arbeite, arbeite ich keine 40 Stunden, meistens sind es nicht einmal mehr 30 in der Woche. Aber das erzähle ich eigentlich niemandem.
Es hat lange gedauert, bis ich mir nicht mehr den Vorwurf gemacht habe, dass ich in Wirklichkeit vielleicht einfach nur ein fürchterlich fauler Mensch bin. Doch irgendwann habe ich festgestellt, dass ich effizienter und besser arbeite, wenn ich weniger arbeite. Dass ich in weniger Stunden auch nicht wesentlich weniger schaffe als vorher. Das ist das eigentliche Geheimnis.
Außerdem geht es mir insgesamt besser
Ich habe im Alltag Zeit genug für die schönen Dinge: Einen Spaziergang am Mittwochnachmittag, weil die Sonne gerade so schön scheint. Manchmal sogar mit meinem Mann, weil er ebenfalls flexibel arbeiten kann. Ein absoluter Glücksfall! Ich habe Zeit für den Lieblingsfilm am Dienstagvormittag. Einfach so oder vielleicht auch, weil der Kopf sowieso „dicht“ ist und nicht denken mag. Danach wird der geforderte Text in einer halben Stunde in die Tastatur gehauen. Ich habe Zeit, meine Termine zu organisieren, Erledigungen zu machen, kleinere Reparaturen zu erledigen, meinen Garten zu pflegen. Außerdem habe ich genug Spielräume, um mich um meine leider oft angeschlagene Gesundheit zu kümmern. Wäre ich noch angestellt, wäre ich inzwischen krankheitsbedingt wahrscheinlich gar nicht mehr angestellt. Ich wäre raus aus dem „Erwerbsleben“, so wie Millionen anderer chronisch kranker Menschen auch.
Ich schreibe das alles aus einer privilegierten Situation heraus.
Ich bin finanziell abgesichert. Ich kann mir Unterstützung leisten: Von der Steuerberaterin über die Putzhilfe und Handwerker für Reparaturen bis zur Studentischen Hilfskraft. Nicht jede*r kann so agieren, wie ich das tun konnte und kann. Und genau das ist nicht in Ordnung.
Es sollte nicht nur Wenigen möglich sein, ein Leben zu führen,
dass nicht stress-krank macht oder ständig am Rande des Burn-out entlangsegelt.
Ein Leben, das Schönes auf ein ominöses „Später“ verschieben muss, weil sonst die Miete nicht zu bezahlen ist oder keine echte Teilhabe möglich ist.
Wir alle haben nur dieses eine Leben und es sollte nicht nur der Arbeit gewidmet sein müssen.
Weiterführende Links
https://editionf.com/8-Stunden-Tag-ueberholtes-Konzept-New-Work/