Antwort 11 – Warum würdest du emigrieren?

Antwort 11 – Warum würdest du emigrieren?

Oder: Warum würdest du auswandern?

Emigrieren und Auswandern bedeuten zwar faktisch dasselbe -Verlassen des Heimatlandes auf Dauer- aber Emigration hat für mich eher etwas mit Unfreiwilligkeit zu tun.

Ich emigriere, weil ich verfolgt werde, mein Leben bedroht wird oder in meinem Heimatland zu leben unerträglich wird durch Naturkatastrophen, gravierende politische Veränderungen oder Krieg.
Wann ich den Entschluss fassen würde, kann ich jetzt gar nicht entscheiden. Wenn ich darüber nachdenke, tauchen gleich die nächsten Fragen auf: Wie lange würde ich vorher aushalten? Welchen Zustand meines Lebens würde ich als unerträglich bezeichnen? Wenn es um politische Veränderungen geht, wünsche ich mir natürlich, dass ich vorher protestiert hätte, dass ich dagegen gearbeitet hätte, dass es überhaupt soweit kommt. Aber ob tatsächlich so viel Rebellin in mir steckt? Was würde ich auf mich nehmen? Welche Opfer bringen für meine Überzeugungen? Mein Leben würde ich wahrscheinlich nicht riskieren, sondern es durch Emigration retten. Und Emigrieren ist meiner Meinung nach immer noch besser als Resignation und Anpassung.

Am liebsten würde ich natürlich aus reiner Abenteuerlust und Neugier auswandern. Das wäre dann freiwillig und ich hätte mir das Verlassen alles Vertrauten selbst ausgesucht. Dann wiegt der Verlust erst einmal weniger schwer.

Lieber Herumwandern statt Auswandern

Ich habe mit Begeisterung das Buch von Maike Winnemuth „Das große Los“ innerhalb einer Nacht durchgelesen. Und mich noch vor dem letzten Kapitel bei Airbnb angemeldet und angefangen, meine eigene Weltreise zu planen. Ich träumte davon, mich in einem indischen Palast einzumieten, in einer Opalmine zu übernachten und in Neuseeland auf einer Schaffarm mitzuarbeiten. Die Idee von einem Land zum anderen zu ziehen, hatte mich gepackt.

Das ist allerdings eine sehr spezielle Form des Auswanderns, eher ist es Herumwandern. Und die Gründe dafür sind meine unermessliche Neugier auf das Leben in anderen Ländern und die Sehnsucht in die Kultur eines fremden Landes einzutauchen. Mich interessiert, was für andere Menschen „normal“ ist. Dann kann ich mein eigenes „Normal“ auch noch einmal ganz anders betrachten und verstehen, dass es nur eine der vielen Variationen ist, wie man auf dieser Erde gut leben kann.

Oder ich stelle fest, dass mein Normal und das vermeintlich fremde Normal erstaunlich ähnlich sind. Ich erinnere noch gut eine Bemerkung eines afrikanischen Workshopteilnehmers vor vielen Jahren: „Wenn ich morgens ins Büro fahre, nehme ich auch mein Auto und trinke als erstes einen Kaffee, wenn ich ankomme. Was denkst du denn? Dass ich in einer Strohhütte meinen Schreibtisch habe? Nairobi ist eine Millionenstadt!“ Autsch!  

Ich hatte das Glück, in meinem früheren Beruf als Trainerin in viele Länder reisen zu können und mit Menschen aus noch viel mehr Ländern zusammenzuarbeiten. Und ich habe immer so viele Gemeinsamkeiten neben den Unterschiede zwischen uns entdeckt. Dabei war es auch egal, auf welchem Kontinent ich unterwegs war.

Ich suche also beides bei meinen Auswanderungsgedankenspielen: Das Fremde im Vertrauten und das Vertraute im Fremden.

Ich bin nicht weg, ich bin nur woanders

Wenn ich für einen längeren Zeitraum oder gar „für immer“ auswandern würde, gäbe es noch viele andere, spannende Fragen zu erkunden:

Wie schnell kann ich an einem Ort erste Wurzeln schlagen?

Was macht das Ungewohnte mit mir, wenn das Gewohnte wegfällt? Was gibt mir dann Halt?

Es wäre interessant herauszufinden, welche Selbstverständlichkeiten mit plötzlich fehlen würden.

Das deutsche Brot, wie bei meinem ersten USA-Aufenthalt, wird es nicht mehr sein. Dazu sind schon zu viele deutsche Bäcker ausgewandert und haben in allen Winkeln der Welt deutsche Bäckereien eröffnet. Vielleicht würde ich mich nach dem weiß-gelben Vorfahrtschild sehnen oder nach dickem Novembernebel und dem Wechsel der Jahreszeiten.
Wie lange würde ich an Weihnachten Bratwurst und Kartoffelsalat essen wollen? Oder wäre das Bedürfnis verschwunden, sobald ich nicht mehr hier bin?

Wann ist ein fremdes Land nicht mehr fremd? Wie oft muss ich lokale Rituale ausführen, damit sie voll und ganz meine werden? Geht diese Inbesitznahme überhaupt? Wäre sie vor Ort erwünscht? Es ist schließlich denkbar, dass das als übelste „Einschleimerei“ und Vereinnahmung verstanden würde.

Wie lange würde es dauern, bis ich die Hintertür der Rückkehr leise zufallen lasse?

Mir vorzustellen, für immer wegzugehen, fällt mir tatsächlich schwer. Die Abenteuerlust ist dabei auf Sparflamme gedreht und ich kann mich kaum in diese Vorstellung hineinträumen.

Vielleicht hat das aber auch mit der jetzigen Situation zu tun. Im Moment kann ich ja gar nicht woanders hin und will es auch gar nicht. Gerade bin ich am liebsten Zuhause, ganz ohne Abenteuerlust und Neugier auf fremde Länder. Ich bin gerne da, wo alles vertraut ist. Da, wo es mir sicher vorkommt.
Wenn ich wieder könnte, wenn ich an einen Zeitpunkt „danach“ denke, gefällt mir sowieso die „Auswandern light“ Variante am besten.

Auswandern als Weggehen auf Zeit

Für eine spannende Aufgabe würde ich auswandern. Ein Ein-Jahres-Projekt auf La Palma oder in Irland oder in …

Ich träume von einer einsamen Hütte in Schweden. In der ich in Ruhe schreiben und lernen kann. Jedenfalls so lange, bis mir die Einsamkeit auf den Wecker geht oder jemand nachschauen kommt, ob ich noch am Leben bin.

Anschließend wäre ich dann in dieser Studio-Wohnung in New York. Die mit den großen Fenstern und dem atemberaubenden Blick über die Stadt. Um die Ecke ein Park, in dem ich Eichhörnchen füttern gehen kann, ein Jazzclub für den 2-Uhr-morgens-Blues und ein Schreibwarengeschäft, in dem ich mir Tinte und Papier kaufe. Dafür würde ich eine Weile auswandern.

In der Realität mache ich sogar schon etwas ganz Ähnliches und genieße es sehr. Seit zwei Jahren verbringe ich vier Wochen im Spätsommer auf Eiderstedt an der Nordsee. Ich wohne auf einem kleine Bauernhof in einer Ferienwohnung. Mit Ausblick auf die Sorte Landschaft, die ich so liebe, außerdem sind da unglaublich freundliche und herzliche Menschen und noch mehr nette Katzen. Das Schreibwarengeschäft ist zwar ein Drogeriemarkt und nach einem Jazzclub suche ich noch, aber statt Park mit Eichhörnchen habe ich die Nordsee! Da kann man nicht meckern.

Nach einigen Urlauben und diesen zwei längeren Aufenthalten wird das so langsam zu so etwas wie einer zweiten Heimat. Als ich in diesem Jahr zurückgefahren bin, hatte ich zwei, drei Tage nach der Rückkehr noch Heimwehgefühle. Das war neu.

Kann ich also mehr als eine Heimat haben?

Inzwischen glaube ich das schon. Ich kann mir prima vorstellen, über das Jahr an zwei, drei festen Orten zu leben. Oder für eine Weile herumzuwandern. Um dann wieder zur Basis zurückzukehren.
„Polypatrie“ – Leben an vielen Lebensorten. Das würde mir gefallen.

 



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