Ich bin Viele

Ich bin Viele

Ich glaube, dass ich bessere Entscheidungen für mein Leben treffe, wenn ich Vernunft UND Gefühl zu Wort kommen lasse. Beide haben aus ihrer Perspektive immer recht. Rationale Überlegungen sind genauso wahr wie emotionale Reaktionen. Beides liefert Informationen. Beide haben recht!
Keiner von beiden darf Meister sein; beide sind gute Diener.

Das Herz liegt auf halbem Weg zwischen Hirn und Bauch. Das Herz liebt beide: Ratio und Emotion. Es schaut auf sie wie auf zwei Kinder, die beide ihren Trotzkopf durchsetzen wollen. Das Herz liebt das Hirn genauso wie den Bauch. Das Herz sieht das große Ganze.

Oh, Nein! Jetzt bloß nicht dieses Gefasel von „man sieht nur mit dem Herzen gut“. Es ist nicht alles Liebe, Friede, Freude, Eierkuchen. Wir brauchen auch noch ein Rückgrat, das dafür sorgt, das unsere anderen Werte gelebt werden. Das Herz ist zu verwundbar. Wenn es verletzt ist und schmerzt, neigt es zu blöden Entscheidungen. Dann rutscht es in den Bauch und wir haben den Schlamassel. Denn dann sitzt es mit der Wut zusammen.

Wir haben da so viele Elemente: Hirn, Herz, Bauch, Rückgrat. Wer hält das alles eigentlich zusammen? Und was ist überhaupt mit dem EGO?

Wir brauchen einen Moderator, der zwischen Herz, Hirn, Bauch und Rückgrat vermittelt. Das Herz sieht nur Verbindungen. Ist alleine untröstlich einsam. Der Geist hat nichts gegen Alleinsein. – Kann es überhaupt einen endgültigen, einen stabilen Zustand geben?

Sehnsucht nach Homöostase – Fließgleichgewicht zwischen Hirn, Herz, Bauch und Rückgrat. Mal bestimmt der, oder der oder das. Niemand kann alles. Keiner kommt alleine klar.

Das Jahr mit Paps – Trauer hätte mich überwältigen können. Sie hat mir gezeigt, was ich verlieren werde. Das Herz hat versucht mit ihm in Verbindung zu bleiben, so lange es ging. Das Hirn hat organisiert, was zu tun war. Und das Rückgrat hat mir dabei geholfen, nicht zusammen zu brechen.

Nur Ratio und Disziplin bei Mamas Krankheit, Sterben und Tod zwanzig Jahre früher. Keine Verbindung untereinander. Keine Verbindung zu mir selbst und meinen Emotionen. Kein Herz und vor allem – kein Bauch! Nur Kopf und ich dachte, ich hätte Rückgrat, weil ich mich einfach durchgebissen habe. Resultat: Keine Fehlzeiten auf der Arbeit. Depressionen. Keine Lust auf nichts mehr.

Lernen aus dieser Erfahrung hat sehr viel Zeit gebraucht. Es hat lange gedauert, Emotionen als Verbündete und nicht als Feinde zu sehen. Ich überlege zu viel, denke auch jetzt darüber nach, was hier stehen sollte, statt dem Fluss der Gefühle zu folgen. Wer weiß, wo der mich hinführt?

Ich habe einen Fehler gemacht, damals vor mehr als zwanzig Jahren. Ich konnte es nicht besser. Durchhalten, ein dickes Fell haben, waren Familienmottos gewesen. Das abzuschütteln hätte Familienbande lösen bedeutet. Einsamkeit. Die Einsamkeit der Trauer war dann aber viel schlimmer als alles andere.

Als mein Vater seine Diagnose bekam und wir wussten, dass wir nur noch ein knappes Jahr gemeinsam haben würden, konnte ich anders handeln. Es war möglich, in diesem schrecklichen Jahr auch schöne Momente zu schaffen. Dafür zu sorgen, dass es ein buntes, ein reiches Jahr wurde und nicht nur ein Jahr voller Tränen. Ich habe mich in diesem Jahr unendlich lebendig gefühlt – trotz allem. Dafür bin ich zutiefst dankbar, auch wenn ich es immer noch nicht ganz verstehe.

Ich konnte in dieser Zeit eine Stimme immer klarer wahrnehmen, die allen Anteilen zuhören wollte. Ich glaube, dass diese Stimme schon immer da war. Ich war nur abgelenkt, weil sich Hirn und Bauch immer so laut gestritten haben, wer denn jetzt recht hat. Und das Herz hat dazu laut geheult, weil es den Streit so schrecklich fand. Und das Rückgrat wollte so gerne ein Machtwort sprechen.

Deshalb hat das Lernen so lange gedauert. Alle mussten verstehen lernen, dass alle recht haben, dass alle etwas Wichtiges wollen.



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