60 Fragen – Antwort 2

60 Fragen – Antwort 2

Findest du es egoistisch, in Zeiten wie diesen zufrieden und glücklich zu sein?

Ein fiktives Streitgespräch

Nein, das finde ich nicht. Ich finde das OK.
Ich schätze mich sehr glücklich, dass es mir gut geht.
Ich habe auch viel Glück gehabt. Und ich bin sehr froh, dass ich
Gelegenheiten habe, Freude und Energie zu sammeln.

Ja, aber: Corona-Pandemie, Trump, RBG gestorben,
brennende Wälder in Kalifornien und Amazonien,
Plastik im Meer, Rassismus, Homophobie,
Sexismus, Cancel Culture, Neo-Nazis, Wirbelstürme,
Klimawandel, Moria….

Das kann ich einfach nicht ausblenden!
Das macht mir schlaflose Nächte.

Genauso gibt es aber auch Sonnenwetter,
bestandene Prüfungen, unbefristete Arbeitsverträge,
neue Traumjobs, das Baby ist da, die neue Single ist da,
Gartenblüte, Ernteerfolge, die neue Wohnung,
glückliche Beziehung, neue und alte Freundschaften,
gutes Essen und die neue Jeans, die endlich richtig gut passt,
und noch ganz viele andere Dinge auch.
Das will ich nicht ausblenden.
Denn damit würde ich mir Freude nehmen.
Und ich will Freude in meinem Leben haben.

Also ich habe da ein schlechtes Gefühl dabei.
Ich finde es wichtig, sich zu engagieren
und nicht blind durch die Welt zu laufen.
Wieso nimmst du dir heraus,
dass es dir gut geht, während die Welt untergeht?
Wenn es so vielen anderen so schlecht geht,
finde ich es verwerflich, sich ins Private zurückzuziehen.

Ich finde es gut, sich zu engagieren.
Wenn es etwas gibt, wofür ich mich einsetzen möchte,
tue ich das auch. Das ist auch wichtig für mich:
Etwas Sinnvolles mit meinem Leben anzufangen.
Dazu beizutragen, dass sich etwas verbessert.
Das eine schließt das andere doch nicht aus.

Erst wenn es mir selbst gut genug geht,
kann ich anderen helfen.
Wenn ich selber ständig müde bin,
habe ich einfach keine Energie mehr übrig,
um mich zu engagieren.
Aus einer leeren Flasche kann nichts kommen.

Aber exzessiver Konsum richtet doch tatsächlich große Schäden an.
Ein schlechtes Gewissen zu haben, ist dann doch angemessen.
Das spornt doch an, etwas zu verändern.
Und es muss sich noch eine Menge verändern,
damit wir auch in Zukunft noch ein lebenswertes Leben haben können.
Damit es diese schönen Momente überhaupt noch geben kann.

Ich will aber nicht dauernd beschämt werden.
Ich finde, Scham funktioniert auf blöde Weise als Motivator.
Dann tue ich ja nur etwas, um negative Konsequenzen zu vermeiden.
Und nicht wirklich aus Überzeugung.

Das wäre mir egal!
Hauptsache, das Richtige passiert.
Es ist so schrecklich, die vielen Schäden überall zu sehen.

Aber Scham ist mit das schmerzhafteste Gefühl,
das Menschen haben können.
Es ist das Gefühl, es nicht zu verdienen,
zu einer Gemeinschaft dazuzugehören.
man fühlt sich ausgestoßen und das Gefühl soll wieder weg gehen.
Manche machen dann aus Trotz genau
mit dem weiter, weswegen sie beschämt worden sind.

Das ist auch wieder blöd.
Aber viele ändern trotzdem ihr Verhalten.
Und das zählt für mich.

Mir wäre der Preis zu hoch.
Wenn ich dagegen Freude am Leben empfinde,
weil ich gut für mich sorge, möchte ich doch,
dass es möglichst vielen Menschen auch so gut geht wie mir.

So sind viele Menschen aber nicht!
Es gibt so viele Egoisten,
die immer nur auf den eigenen Vorteil aus sind.

Ganz viele haben doch gerade in den letzten Monaten
andere Menschen geholfen:
Nachbarschaftshilfe, Masken nähen, Solispenden, …
Wenn ich immer nur auf das Schreckliche schaue,
verliere ich den Glauben an die Menschen
und ihre Fähigkeit Gutes zu tun.
Und warum sollte ich ihnen dann noch helfen wollen?

Aber das ist alles einfach nicht genug!
Es muss noch so viel mehr passieren!
Es müssen sich noch viel mehr Menschen engagieren
und ihre Zeit darauf verwenden.

Das stimmt! Das finde ich auch!
Aber ich kann mich nicht engagieren, wenn es mir selbst schlecht geht.
Wenn ich meine Bedürfnisse ignoriere,
brenne ich irgendwann mit Sicherheit aus
Und brauche dann selbst Hilfe von anderen.
Das macht die Gesamtsituation doch nur schlimmer.

(Fortsetzung folgt.)

PS:
Der Absatz über Scham basiert auf der Definition von Brené Brown.
Auf ihrer Website (englisch) findest du weitere Informationen über Scham und wie lähmend sie sein kann.
Empfehlenswert auch ihre Bücher „I thought it was just me“ (nicht auf Deutsch erschienen), „The gifts of imperfection – Die Gaben der Unvollkommenheit“ , „Daring greatly – Verletzlichkeit macht stark“, „Rising strong – Laufen lernt man nur durch Hinfallen“ oder „Braving the Wilderness – Entdecke deine innere Stärke“


(Wer hat bloss diese deutschen Titel erfunden??? Bitte nicht abschrecken lassen. Ich hoffe, der Text der Bücher ist besser übersetzt. 😉 )



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