Warum ich nie damit aufhören werde, mehr über mich zu erfahren – Antwort 25

Warum ich nie damit aufhören werde, mehr über mich zu erfahren – Antwort 25

„Erkenne dich selbst!“ stand ja schon am Orakel von Delphi. Sich selbst besser kennen lernen zu wollen, hat also eine ganz schön lange Tradition. Aber ist damit nicht auch irgendwann mal genug? Was soll es bringen, wenn ich andauernd nur um mich selber kreise und Selbstbespiegelung betreibe?

Ich habe Selbsterkenntnis, also das Erforschen von Motiven, Bedürfnissen, Beweggründen, Werten und erwünschten Handlungsweisen inzwischen ja sogar zu meinem Beruf als Coach gemacht. Und trotzdem frage ich mich natürlich ab und zu, ob man wirklich alles finden muss, was da so in einem steckt. Von wegen innere Abgründe, innere Monster, Dämonen und Pandoras Box öffnen.

Keine Zeit für so etwas

Für lange Zeit in meinem Leben habe ich das Erkunden meiner inneren Welt für überflüssig, zeitraubend und wenig nützlich angesehen. Ich wollte schließlich etwas erreichen in meinem Leben. Da hatte ich überhaupt keine Zeit für so einen „Psycho-Quatsch“. Ich musste meine Leistung bringen und faules Herumdenken würde mir bei meinem Job auch nicht weiterhelfen. Ich hatte ein ziemlich seltsames Bild von Selbsterkenntnis und den Motiven, warum ich das betreiben sollte.

Dann hat „das Leben“ dafür gesorgt, dass ich reichlich Zeit dafür hatte. Und dazu noch einen Haufen Probleme, die ich nicht bewältigt bekam, OHNE mich mit mir selbst zu beschäftigen. Und zwar ausführlich. So ausführlich, dass es mir zwischenzeitlich wirklich zu den Ohren raus kam. Weil da selbstverständlich auch Dinge auf meinem Speicher rumstanden, die ich am liebsten vergessen hätte. Gut weit hinten verstaut und die Kisten fest verschlossen. Ich wollte aus gutem Grund nicht rauf da. Aufzuräumen würde dreckig werden. Und schmerzhaft.  

Ich will nicht wissen, was da rumliegt

Das Gefühl, dass im eigenen Inneren Unangenehmes vorhanden ist, kann also durchaus stimmen. Je stärker das Gefühl, desto mehr ist vielleicht tatsächlich da. Von daher ist es mehr als verständlich, sich nicht mit dem mentalen Ausmisten zu beschäftigen. Oder die Kisten einfach wegwerfen zu wollen, ohne noch mal reinzuschauen. Blöderweise funktionieren wir nicht so. Alles Verdrängte, Weggepackte kommt wieder. Garantiert! Und zwar am allerliebsten ganz überraschend und an den Stellen, an denen es den größten Wumms verursacht. War bei mir jedenfalls so. Die Kisten wollten ausgepackt werden. Alte Glaubenssätze hinterfragt, Beziehungen durchleuchtet. Das ganze Programm. – Wie will ich eigentlich wirklich leben? (Nö, die Frage ist noch nicht abschließend beantwortet! 😊)

Und vieles davon hat weh getan, war schwierig. Und es war notwendig. Denn was wäre die Alternative? Ich lasse meine alten Sachen an Menschen aus, die damit gar nichts zu tun haben? Bloß weil mich meine Kollegin scheinbar genauso abkanzelt wie meine Mutter, werde ich biestig zu ihr? Weil irgendwo etwas diffus im Unterbewusstsein wabert und giftige Dämpfe nach oben schickt, lasse ich meine Beziehungen im Jetzt Schaden nehmen? Stehe mir selbst ewig im Weg herum?

Das ist unfair und gibt dem alten Kram viel zu viel Macht. Außerdem ist es nicht clever. Und ich bin gerne clever.

Der wertvollste Spruch in diesem Zusammenhang ist deshalb seit längerem für mich:

Alles, was mich länger als 10 Minuten aufregt, hat mit mir zu tun.

Und ich sollte es mal erforschen. Freundlich und mit Neugier… uff!

Selbsterkenntnis = Selbstvorwürfe?

Als Anfängerin im Selbsterkenntnisgeschäft hatte meine innere Kritikerin völlig freie Bahn. Es war ein Eldorado für sie. Alles wurde immer wieder ans Licht gezerrt. Also alles, mit dem dieser Teil von mir so gar nicht einverstanden war.

Wie ein Mantra surrten die Gedanken durch meinen Kopf: Nicht gut genug! Nicht schnell genug! Nicht smart genug! Nicht freundlich/ durchsetzungsstark/ leistungsfähig/ produktiv/ dünn/ opferbereit/ erfolgreich/ beliebt/ [beliebiges Eigenschaftswort das gerade envogue ist einsetzen] …genug!
Auf jeden Fall nicht genug. Nie!

Auf diese Art der Selbsterkenntnis kann ich locker verzichten. Aber ich wusste einfach nicht, wie ich anders auf mich selbst schauen sollte als eben „kritisch“. Ich musste doch wissen was nicht in Ordnung war, um es verbessern zu können. Die innere Schweinehündin/ Prokrastinatrix/ Zauderin musste doch bezwungen werden! Oder etwa nicht?

Ich wünschte, ich hätte es früher in meinem Leben gelernt, dieses freundlich, nachsichtig, verständnisvoll und einfach nur neugierig auf mich selbst Schauen.

Und es war mal wieder Barbara Sher, die mir viel davon beigebracht hat.

“Be a scientist of one!”

Sei eine Forscherin mit dem Studienobjekt „SELBST“. Neugierig Fragen stellend, nicht abkanzelnd, nicht abwertend. Freundlich interessiert. Der häufigste Kommentar sei: „Aha! Das klingt ja interessant! Erzähl‘ mir mehr davon.“

Ich habe mich gefühlt durch eine ganze Bibliothek gelesen, um mir Tricks, Kniffe und Methoden dafür anzueignen. Eine ziemliche Herausforderung, aber ich werde besser. Oft habe ich sogar regelrecht Freude daran!  

Ich habe keine Lust im stillen Kämmerlein vor mich hinzudenken!

Ich sitze viel herum und schreibe. Journaling und „free writing“ ist mir immer noch das Liebste. Aber ohne Input und Hilfe von außen geht es nicht auf Dauer. Ich habe meine blinden Flecken, die ich von innen gar nicht sehen kann. Da brauche ich Feedback und Unterstützung. Besonders auch beim Auspacken der Kisten mit dem ganz blöden Inhalt haben mir Profis geholfen. Das habe ich mit Therapeuten und Coaches gemacht.

Und mit viel Unterstützung von Menschen, die mir nahe sind: Enge Freunde und -vor allem, immer wieder- mein Mann. Wunderbare, verlässliche Menschen, die für mich da waren und sind.

Die richtige Dosis der Selbstumkreiselung in Freundschaften zu finden finde ich trickreich. Ein Zuviel kann für Beziehungen -auch die engeren- schon belastend werden.

Und Selbsterkenntnis kann Freundschaften sogar zerbrechen lassen. Ob daran dann die Selbsterkenntnis „schuld“ hat oder ob die Beziehung sowieso keine gute war, ist nicht generell zu entscheiden, finde ich.

Selbsterkenntnis verändert wohl in den meisten Fällen irgendetwas. Wenn dadurch die Basis für die Freundschaft nicht mehr da ist, geht man auseinander. Das ist traurig. Mir ist das passiert. Gerade bei längeren und grundlegenderen Veränderungsprozessen gibt es auch oft Freund*innen auf Zeit, die nur für einen Abschnitt meines Lebens da sind. Und umgekehrt.  Das zu akzeptieren ist schwierig. Deshalb kann ich das flaue Gefühl, das gegen mehr Selbsterkenntnis spricht, gut verstehen. Es ist nicht aus der Luft gegriffen.

Mehr über sich selbst zu erfahren kann eben auch Dinge in Frage stellen, die man für in Stein gemeißelt gehalten hat. An denen man sich festgehalten hat, die Halt gegen Verunsicherung gegeben haben. Und wenn die wackeln, lässt das mich selbst auch wackelig werden, auch weil es vielleicht zu schwierigen Veränderungen aufruft. Es braucht Courage, ich muss mir ein Herz fassen, um das zuzulassen. Vielleicht fühlt es sich für den Moment besser an, mal lieber nicht „dran zu rühren“. Aber…

Diese eine unfassbar kostbare, zerbrechliche Leben

Mehr habe ich nicht. Wie kann ich da aufhören, immer weiter zu lernen, zu wachsen und dafür zu sorgen, dass ich möglichst gut gedeihe, mich entfalte und voll und ganz LEBE?

Denn eins weiß ich inzwischen auch:

Wenn ich denke, ich habe die Antwort, ändert das Leben die Frage!

Ich bleibe also immer weiter „A scientist of one!”



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